Der Zug nach New York

Es war ein besonderer Tag. Für unsere beiden Kinder begann soeben ein neuer Lebensabschnitt. Mein Sohn hatte seine Schulausbildung beendet und musste gleich am nächsten Tag zum Heer einrücken und meine Tochter durfte zum ersten Mal in den Ferien arbeiten. Beide standen mit großem Gepäck am Bahnhof um nach Wien zu fahren. Mein Mann und ich hatten sie begleitet und da wir nicht genau wußten wann wir sie wiedersehen würden umarmten wir sie wieder und wieder, als ob sie auf eine Weltreise gingen. Jeder der in der Familie wurde umarmt, geherzt und geküßt, ob er nun heimkam oder wegfuhr, um ihn spüren zu lassen, daß wir ihn vermisst hatten oder er uns fehlen würde.

Als der Zug kam stiegen sie ein, natürlich erst nachdem wir sie neuerdings umarmt und geküsst hatten, gingen in das nächste Abteil und öffneten das Fenster damit sich unsere Hände nochmals finden und für einen kurzen Augenblick festhalten konnten.
Eine Frau, die uns die ganze Zeit schon beobachtet hatte fragte in sarkastischem Ton „Fährt dieser Zug nach New York?“
Ich verneinte lächelnd und sie dachte wohl, ich hätte sie nicht verstanden. Der Zug fuhr nur nach Wr. Neustadt und der Anschlusszug brachte sie nach Wien. Aber in Wirklichkeit fuhr er viel weiter, über New York hinaus, in eine neue Selbständigkeit von der sie freier und erwachsener zurückkamen. Ein Teil ihres Kindseins hatte für immer Abschied genommen aber das hatte sie wohl nicht verstanden.

Doris Pikal